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 Meine Straße

Teil II

 

Unser Dorf hatte seine bedeutenderen Zeiten als Marktflecken mit einem nicht mehr zu verortenden Kloster und einem niedergegangenen Burgmannenkastell der Lehnsherren längst hinter sich, als in den 1860er Jahren begonnen wurde, die Eisenbahn zu bauen. Es zogen Bahnarbeiter, Bahnbeamte und Zulieferer zu. Ins Ort zogen hessische und pfälzische Unterdialekte. Der Bahnknoten brachte die Menschen zusammen.

   Das Dorf erstreckte sich in südlicher Richtung, am Hang zum Bachlauf gelegen, hügelaufwärts zum Bahndamm – und mit ihm auch unsere Straße, die oben hinter einer Linksbiegung verschwand, wo sie hinter dem letzten Haus in einen unbefestigten Weg auslief, bekrönt von einer Kohlenhalle.

   Unten, nahe ihrem Beginn, fast noch die Hauptstraße berührend, zweigte in der Führung des einstigen Dorfgrabens, zu Teilen noch erkennbar als ein abgesenkter Garten, ein Weg ab, zog am Kirchgrundstück vorbei und lief parallel zum Bachlauf als Nordgrenze des alten Dorfes über die gesamte Ortslänge hin. In seiner Mitte entsorgte eine Rinnsteinpflasterung den Niederschlag.

   Eine für mich, für uns Kinder, kleine, überschaubare Welt. Meine Straße. Weiter oben am Hang zweigte noch eine weitere Straße ab, linker Hand, fast schon am Bahndamm. Die Kaiser-Wilhelm-Straße. Kein Boulevard, wie der Name suggerieren könnte. Drei Hausnummern gab es. Vielleicht war vor Zeiten einmal gedacht gewesen, eine Straße in die Felder zu schicken. Aber dann war die Zeit des Kaisers vorbei, und quer über die Straßenführung wurde eine Schule gebaut. Sic transit gloria mundi. Auch der Glanz des letzten Kaisers. Die Straße war nicht einmal wichtig genug, als dass man für sie einen neuen Namen hätte suchen wollen, wie dies vielerorts geschah nach dem Untergang der imperialen Glorie, und war so unbedeutend geworden wie der Kaiser – insofern vielleicht sogar ein demokratisches Statement, beabsichtigt oder nicht.

   Aus im Vergangenen ruhenden Gründen wurde meine Straße „Schlottergasse“ genannt. Was ein(e) Schlotter sein könnte, blieb und bleibt mir verborgen. Das Wort existiert nicht. Im Wörterbuch findet man die Schlottermilch als Synonym für Sauermilch, und es gab ja auch Milchvieh in der Straße. Oder fror man dort oft derart, dass man vor Kälte schlotterte? Die einstige Neubaustraße aus der Zeit um 1900 war zunächst nach einer Seite nicht bebaut gewesen und als Randstraße des Ortes dem kalten Ostwind ausgesetzt.

   Um der Spekulation eine Variante anzufügen – und vielleicht ist sie sogar die plausiblste: Ursprünglich war die Straße nicht auf ihrer gesamten Länge befestigt gewesen, wie ein altes Foto zeigt, auf dem meine jungvermählten Großeltern stolz aus ihrem neuen Haus blicken. Davor ist ein Stück des geschotterten Bürgersteigs zu sehen mit der Rinnsteinpflasterung als Trennung zur ebenfalls geschotterten Straße. Vielleicht hatte man einfach die „Schottergasse“ verballhornt, weil man ins Schlottern kam, wenn man mit eisenbereiften Rädern darüber hinweg holperte. Ab dem dritten Glas Wein ist vieles möglich.

   Wo meine Straße auf die Hauptstraße stieß, vermute ich den frühen historischen Ortsbeginn: Ein reines Straßendorf links und rechts der Durchgangsstraße, parallel zum Bachlauf, gesäumt von Sackgassen, die, gerade oder gewinkelt, vor Hoftoren oder am Bach endeten. Hier lag das Kirchgrundstück mit einigen verbliebenen Grabsteinen des einstigen Friedhofs. Im Sommer spielten dort die Kindergartenkinder. Mein liebster Grabstein war der, auf dem man sich Motorradfahren vorstellen konnte, weil er, nicht sehr groß und schmal, schräg abgesunken in der Erde steckte. Man nahm einen Stock in die Hände wie einen Lenker und legte sich mit lauthals verkündetem Gasgeben in die imaginären Kurven. Bis der Nächste fahren wollte.

   … Ich war bei der Hauptstraße. Meine Phantasie vermochte sich vorzustellen, dass hinter den Knicken, die einige der Sackgassen nahmen und wo man eigentlich nicht hindurfte, weil kein Weg durch, sondern nur hin führte und man nicht nur möglicherweise, sondern sehr wahrscheinlich mit der Frage: „Was willst du hier?“ konfrontiert worden wäre, man also nicht hinter den Knick ging, außer man kannte dort jemanden, zu dem man begründetermaßen hingehen wollte, allerlei Geheimnisvolles zu vermuten war. Dieser Satz von Thomas-Mannʼscher Länge fängt den literarischen Impetus ein, den ich zu Zeiten, die eigentlich vorerst den Lederstrumpf- und Winnetou-Büchern gehörte, im Innersten verspürte. Der tatsächliche Blick um die Biegung offenbarte ganz prosaisch am Ende einer solchen Gasse ein Hoftor. Was auch sonst. Profan und nüchtern. Aber ein Traum ist ein Traum ist ein Traum.

   Ein Blick zurück unmittelbar vor meiner Zeit, in die ausgehenden 1940er Jahre. Man wollte sich wieder in ein normales Leben jenseits von Diktatur und Krieg hineinfinden. An der Bahnlinie, am Weg hinter der Biegung, wo meine Straße verschwand, war bis Kriegsende ein Gefangenenlager gewesen. Die darin Festgehaltenen wurden auf die Höfe abkommandiert, um bei den Arbeiten zu helfen. Wie es im Lager zuging, ist nicht überliefert. Man darf aber davon ausgehen, dass bei Regelverstößen nicht viel Federlesens gemacht wurde. Das galt insbesondere für Berührungen mit der Bevölkerung jenseits der Arbeitseinsätze. Was im und um das Lager geschah, drang nicht nach außen. Ich habe darüber keine wirkliche Andeutung vernommen, im Raunen der Überlieferung ist jedoch eine Erschießung geborgen aufgrund eines zu nahen Kontaktes. Noch lange nach Kriegsende konnte man das Brachgelände mit Resten der Stacheldrahtverhaue erkennen. Aber die Kunde darüber verwehte im Wind.

   Das gilt auch für die jüdischen Familien und was aus ihnen wurde. Meine Straße hinunterblickend, erkennt man über die Hauptstraße hinweg bis heute den Eingangsbogen einer kleinen Synagoge. Meiner blassen Erinnerung an Erzählungen nach lebten fünf jüdische Familien im Dorf. Eine Verwandte erzählte einmal beiläufig, dass sie als Mädchen Schabbes-Goi gewesen sei. Schabbes ist der Sabbat (Samstag) und jüdischer Wochenfeiertag, und ein(e) Goi jemand Nichtjüdisches. Der oder die Goi wurde gebraucht, um am Sabbat, an welchem keine Arbeiten verrichtet werden durften, kleine Handreichungen im jüdischen Haushalt zu übernehmen.

   Das Schweigen, die jüdischen Familien betreffend, war wohl nicht zufällig, denn nicht wenige Ortsansässige blieben hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand der im Strudel der Geschichte verschluckten Ideologie verfallen. Dass der Schoß, aus dem sie kroch, noch fruchtbar bleiben würde, wusste bereits Bertolt Brecht. Die aufgelassene Synagoge und der verzwergte Kaiser Wilhelm mit seiner Drei-Nummern-Straße: Viel Symbolisches auf kleinem Raum.

   Ich erkenne das im heutigen Blick, aber das sah niemand damals. Die alten Geister geisterten. Autorität war Autorität, weil sie Autorität war. Wer übrigens dieser Begründung nicht logisch folgen kann, ist damit völlig im Recht. Wenn man etwas nicht versteht, bedeutet dies nicht, dass an dem, was man nicht versteht, etwas zu verstehen gälte, das einem lediglich entginge. Es muss nicht an der eigenen Verständnislosigkeit liegen, sondern kann der Sache selbst geschuldet sein. Diese Überlegung mag auf den ersten Blick als zu feinsinnig scheinen, aber sie spiegelt exakt wider, welche gedanklichen Wege die junge Nachkriegsgeneration gehen musste, um diese Selbstbegründung aufzusprengen.

   Der Pfarrer ging mit einer Miene durchs Ort, als sei er ständig des Jüngsten Gerichts gewärtig. Eine Stirnfalte senkrecht zwischen den Augen, den Mund leicht zugekniffen und den Blick nach links oben über den Blickhorizont der Mitmenschen gerichtet – was er dort gesucht hat, vermochte ich nicht zu ergründen. Das allfällige Grüßen auf der Straße wurde von ihm mit einem huldvollen Kopfneigen beantwortet.

   Was die Pfarrer mit den Lehrpersonen gemeinsam hatten: Sie hauten im Unterricht, wenn auch seltener. Den lehramtlichen Rohrstock haben wir nicht mehr erlebt, aber die geübten Hände der pädagogischen Kräfte reichten auch so schon. Heute genügte das für erhebliche strafrechtliche Folgen. Pfarrer, Lehrer und auch Ärzte trugen selten etwas Typisches zum Ortsgeschehen bei. Sie gehörten einer Ebene an, die ihr Selbstverständnis von woanders her bezog. Auffällig wurden höchstens zuweilen erkennbare Schwächen. Zu diesen gehörte eine hie und da auftretende, recht eingehende Liebe zum Wein. Dem fiel so mancher akademisch gebildete Geist zum Opfer, wenn er seinen Beruf auf dem Lande antrat.

   Die Menschen kommunizierten entweder miteinander auf der Straße, wenn sie sich auf ihren Besorgungsgängen trafen, oder es wurden zu Zeiten, als es nur wenige Telefone gab, um sich zu verabreden, Kontakt aufgenommen, indem man einfach zueinander hingegangen ist. Da musste man sich auskennen. Auf die Bauernhöfe konnte man durch das Tor eintreten und sah dann meistens schon jemanden bei der Arbeit. Manche hatten Glocken, die das Öffnen meldeten. Wenn man niemanden antraf, ging man Richtung Haustür. Wer bekannt war, ging noch weiter bis zur Küchentür, weil sich hier die Hausfrau vermuten ließ, und klopfte an. War die Bauernfamilie auf den Feldern, blieb das Tor geschlossen; dann brauchte man es gar nicht weiter zu versuchen. In den nichtbäuerlichen Familien ging es unterschiedlich zu, je nachdem, ob die Hausfrauen zu Hause oder im Beruf arbeiteten. Die wenigen Mietwohnungen verfügten über elektrische Klingeln. Waren noch die Großeltern im Haus und eine Kinderschar spielte davor, brauchte man nur zu fragen. Manche Türen und Tore blieben ständig verschlossen; dann wusste man, an welchem Fenster man zu klopfen hatte.

   Ohne Telefone und Fernsehgeräte gab es noch nicht die Tendenz, sich in den eigenen vier Wänden einzukapseln. Aber dies hatte auch seine Kehrseite, denn es gab, wie zu allen Zeiten, Durchreisende, die auch einmal eine zwielichtige Gelegenheit suchten und erspähten, wo man leicht Zugang hatte. Ob man sich darauf verließ, im Fall eines Falles die Nachbarn herbeirufen zu können? Vor klammheimlichen Taten schützte aber auch das nicht.

Fortsetzung: Teil III