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Hinter dem Mond

Eine Parabel

 

Im Jahr 1969 betrat der erste Mensch den Mond. Ein Jahr zuvor hatte bei einem der mondumkreisenden Vorbereitungsflüge ein Astronaut einen Film aufgenommen, in welchem, wie es mancherorts hieß, „die Erde aufging“.

   Aber die Erde kann auf dem Mond nicht aufgehen. Der Film war während einer Umkreisung entstanden, bei der die Erde scheinbar aus dem Mondhorizont emportauchte. Der Mond wendet der Erde stets dieselbe Seite zu. Abgesehen von kleinen Schwankungen, bleibt die Erde vom Mond aus gesehen immer an derselben Stelle. Sie geht weder auf noch unter.

   An der Deutung als „Erdaufgang“ lässt sich ablesen, wie sich der Mensch täuschen kann, wenn er, wie in diesem Fall, gewohnte Abläufe unhinterfragt auf andere Verhältnisse überträgt. Wenn das nur holprig gelingt, ist irgendwer dran schuld: der oder die große Unbekannte hinter den Kulissen. In dieser Beziehung ist die sogenannte moderne Welt nicht wesentlich über die vor ihr liegenden Zeiten hinausgekommen. Oder vielleicht gar nicht.

   Besichtigen wir die Dinge vor Ort! Wenn ich auf dem Mond wohnte, vielleicht in einer Siedlung, die zu Forschungsaufgaben dort errichtet wurde, könnte ich ohne Unterbrechung die sich drehende Erde beobachten. Über oder unter dem Erdball, manchmal auch hinter ihm, zöge die Sonne langsam ihre Bahn und spendete vierzehn Tage Licht. Sie verschwände danach für zwei Wochen. Dunkel würde es dennoch nicht, denn die Himmelsleuchte befände sich auf der Rückseite des Mondes, schiene auf die sich drehende Erde, und deren Rückstrahlung beleuchtete das Haus, in dem ich wohnte: Neuerde, Halberde, Vollerde, Halberde – immer im Wechsel. Nur auf oder unter ginge die Erde nicht.

   Die Dinge lägen klar vor Augen, eine Täuschung nicht möglich. Was aber wäre, wenn ich mein Domizil auf der anderen Seite des Mondes hätte? Bliebe ich auch dort unbehelligt von irreführenden Eindrücken? Einmal weitergesponnen, stellen wir uns vor, ein Mensch lebte in näherer oder fernerer Zukunft in einer Siedlung, in der er sein Lebensumfeld hätte und aus der er niemals herauskäme. Es soll ja auch auf der Erde welche geben, die ihrer Lebtage nicht die nähere Umgebung verlassen.

   Ich gebe diesem Menschen ein paar konkrete Züge, um ihn vor meinem geistigen Auge Gestalt annehmen zu lassen: Seinen Lebensunterhalt verdient er mit dem Reinigen der Glaskuppeln, welche die Atmosphäre der Siedlung zusammenhalten, eine Tätigkeit, die ihn nicht sonderlich herumkommen lässt. Er ist an Dingen, die jenseits seines Alltags liegen, nur mäßig interessiert.

   Als jemand, der auf der erdabgewandten Seite des Mondes wohnt und dort sogar geboren ist, hat er noch nie die Erde gesehen. Wem dies unwahrscheinlich erscheint, der möge bedenken, dass der Mond keine Meere aufweist, und seine Oberfläche etwa so groß ist wie die von Europa und Afrika zusammen, die Hälfte davon auf der Rückseite. Unser Glaskuppelreiniger weiß noch nicht einmal, dass er auf einem Mond lebt, denn ein Mond umkreist ja bekanntermaßen einen Planeten. Das wäre die Erde, … von der er aber nichts ahnt.

   Für ihn ist deshalb der Mond ein Planet mit dem Namen „Luna“. Man kenne zwar Bilder von einem blauen Planeten, aber Bildern könne man bekanntlich nicht trauen: Fotomontagen und gefälschte Nachrichten gebe es, wie man dies ja fortwährend erlebe, für welche die einen dieses, andere jenes behaupten. Denkt sich der Glaskuppelreiniger.

   Er unterbricht seine Tätigkeit und schaut durch das Kuppelglas zum klaren Sternenhimmel empor. Dort oben sieht er im Abstand von zwölf Mondnächten dieselben Sternbilder am Himmel vorbeiziehen. Ihm ist klar: Der Planet Luna kreist um die Sonne und passiert in jeder dreizehnten Luna-Nacht dieselben Sternbilder.

   Er weiß zwar: Die Konstellationen am Himmel verschieben sich immer ein wenig und verspäten sich von Jahr zu Jahr, warum auch immer. Aber das ist nicht sehr viel. Die paar Unregelmäßigkeiten werden irgendwann durch die Wissenschaft geklärt werden.

   Sein Nachbar hat ihm weismachen wollen, dass sich hinter dem Horizont ein Planet befinde, der um einiges größer sei als Luna. Der sei die Ursache, dass die Sternbilder wanderten, denn er laufe auf einer eigenen Umlaufbahn um die Sonne. Um diesen Planeten kreise Luna, aber eben nicht genau zwölf Mal, während deren dieser Planet seinerseits einmal um die Sonne zöge, sondern etwa um ein Drittel eines Mondtages länger. Das sei dann auch die Erklärung, weswegen sich die Sternbilder verschöben.

   Der Mensch hat ungläubig gelacht. Um das Wandern der Sterne zu verstehen gleich einen ganzen Planeten und diese komplizierte Erklärung erfinden? Und Luna solle ein Mond sein? Unvorstellbar! Er kenne die Planeten: Merkur, Venus, Luna und die anderen. Merkur habe keinen Mond, die Venus nicht und Luna nicht. Und Luna solle auf einmal selbst ein Mond sein? Lächerlich!

   Doch. Das sei möglich, hat ihm sein Nachbar entgegnet. Der Mars habe sogar schon zwei Monde, Jupiter dann schon vier große und außerdem jede Menge kleiner Monde. So etwas sei Luna auch. So ein Mond.

   Sie ließen das Thema auf sich beruhen. Das sei ohnehin Blödsinn, denkt der Glaskuppelreiniger. Sein Nachbar solle einfach nach oben schauen. Sei da oben etwa ein Planet? Nein. Punkt und aus.

   … Manches bleibt für alle Zeiten bestehen. Dazu gehört auch das Verschließen der Augen vor offenkundigen Tatsachen, wenn es nicht in die eigene Weltsicht passt. Welche Dinge dies sind, die es angeblich gebe oder auch nicht gebe, setzt der Phantasie keine Grenzen. Es traf schon immer und trifft auch für die Zukunft zu, dass einige Zeitgenossen hinter dem Mond leben.