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Meine Straße

Teil I

 

Wenige besaßen ein Telefon oder ein Fernsehgerät, damals, in den 1950er Jahren. Das Radio spielte noch seine große Rolle. Und das Kino. Der einförmige Speiseplan wies wenig Abwechslung auf. Die erwachsene Generation bestand aus Menschen, die noch geprägt waren von Kaiserreich und Diktatur. Die Kinder trugen Selbstgestricktes und Hausgeschneidertes.

   Diese Welt bot sich für meine Altersgenossen und mich dar, wie sie nun einmal war. Fragen sollten erst viel später kommen. Den Blick von meiner und den anderen Straßen im Dorf aus entwarfen wir in unserer eigenen Perspektive, wie dies überall geschieht, wo der Mensch seine ersten Schritte versucht, seine anfänglichen Worte lernt und seine Augen in dieses Wunder namens Welt richtet. Mit der Zeit erschloss sich die unmittelbare Nachbarschaft, die Gemeinde, die Umgebung, bis irgendwann der Blick darüber hinaus greifen und die Kinderzeit, die frühen Jugendjahre hinter sich lassen würde.

   Alle hatten ihre Straße, wir hatten unsere Straße, ich hatte meine Straße … oder sie mich.

   Wo war diese Straße? Da, wo sie war. Wo sonst? Sie lag in einem Drumherum, für das es Begriffe wie „endlich“ oder „unendlich“ oder „dahinter“ oder „darüber hinaus“ oder was auch immer nicht gab. Irgendwann, in der Schule, enttarnte sich dieses Drumherum, tauchte auf aus dem Dunst des Märchenwaldes, an dessen Saum die Welt, die Welt meiner Straße, endete.

   Südlich von Mainz, ins Rheinknie geschmiegt, liegt eine eigentümliche Weltgegend. Völkerscharen zogen auf ihren Wanderungen den Rhein entlang und streiften durch die ans Stromtal grenzenden Hügelwellen. Lehnsherren teilten die Dörfer untereinander mal so und mal anders auf, nicht selten unter Zuhilfenahme kriegerischer Gewalt.

   Da wird man vorsichtig. Ein Blick in die Dorfkerne belehrt hierüber. Der typische Bauernhof der Gegend schließt sich mit einem großen, schweren Hoftor nach außen ab, versehen oft mit einem kleinen Seiteneingang oder einer ins Tor eingelassenen Tür, gekrönt und umschlossen von Mauerwerk. Man blickt nicht hinein in dieses Geviert mit Torbau, Wohnhaus, Stall und Scheune.

   Meine Straße … Erinnerung ist subjektiv. Es kommen Dinge darin vor, die sich in keiner Aufzeichnung finden lassen. Sie sind zu unbedeutend, um in schriftlichen Quellen für die Nachfahren aufgehoben zu werden. Dem Blick eines in einem Haus seiner Straße Geborenen und Aufgewachsenen, der sich das Geschehen mit der oft verwunderten Sicht des Kindes betrachtete und die Erwachsenenwelt wie eine Bühne, ein Theater wahrnahm, erschlossen sich andere Einsichten als die mittels eines von allen Schlacken gereinigten Bildes, wie es Chroniken zeichnen. Ich tauche ein in versunkene Blickwinkel, ins Erinnern an die einstige Kindersicht der Dinge, auf der Suche nach der entschwundenen Zeit.

   Wir hatten eine Nachbarin, die ständig im Dorf zugange war, Eier und Speiseöl verkaufte und um die örtlichen Neuigkeiten wusste. Natürlich war das Ungehörige dabei stets interessanter als das nach allgemeinem Verständnis sich Gehörende. Zu uns kam sie regelmäßig, weil meine Großmutter Eier unserer Hühner an sie verkaufte, Öl von ihr erwarb und vor allem neugierig war auf das Dörfliche an sich, die Quintessenz des Zusammenlebens, das tagtägliche Allzumenschliche, mit einem Wort: auf den Tratsch. Selbst konnnte sie nicht mehr recht vor die Tür aufgrund ihres krummen Rückens. Den hatte sie sich bei der Feldarbeit erworben, und er bescherte ihr eine weitgehende Unbeweglichkeit jenseits des Hoftors. Ein seltener, hie und da stattfindender Besuch bei einer alten Freundin glich einem Staatsakt. Diese wohnte nicht weit, über die Straße hinweg, am Beginn eines unbefestigten Weges, über den die Fuhrwerke zu den Feldern hinaus holperten.

   Der Weg gedieh inzwischen zur Straße und ist mit einem Asphaltbelag ausgestattet. Das müsste ich eigentlich mit einem „Damals“, einem „Inzwischen“, einem „Nichtmehr“ oder ähnlichen Ausdrücken verdeutlichen. Aber die Straßen und Wege meiner Kindheit gibt es ohnehin nicht mehr … oder anders: Sie sind gleich geblieben, gleich geblieben in meiner Erinnerung. In ihr verfließt die Zeit nicht. Wer vor mir meine Straße erlebt hat, hat sie anders erlebt, und ebenso wird dies jemand nach mir tun. Die Erinnerung ist eine Insel, ein entlegenes Land irgendwo am Ufer des Vergessens. Und sie gehört uns nur allein.

   Was geschah im Dorf? Man musste es wahrnehmen. Die Zuträgerin meiner Großmutter konnte von ihrer Wohnung im ersten Stock aus in die im Hof liegende Wirtschaftsküche sehen, wo gewaschen wurde und auch andere jahreszeitlich bedingte Tätigkeiten stattfanden. Da nicht alle die dafür benötigten großen Kessel besaßen, wurden diese auch anderen Haushalten zur Verfügung gestellt, wie zm Beispiel zum Einkochen von Pflaumenmus. Das brauchte seine Zeit. Selbige vertrieb sich eine Dame mit einem bürgerlich anderweitig gebundenen Herrn auf dessen Knien. Unfreiwillig oder nicht: Großmutters Informantin hatte es gesehen. Dies scheint von den beiden mit und auf dem Knie Beschäftigten bemerkt worden zu sein, weil besagte Dame, die mit der Augenzeugin in keiner Feindschaft lebte, sie kurze Zeit später darauf ansprach mit der Bitte, möglichst Diskretion walten zu lassen, jedoch die Antwort bekam:Zu spät, ich habe es schon weitererzählt!“

   Leute wie unsere Augenzeugin gibt es in jeder menschlichen Ansiedlung, und in früherer Zeit waren sie auch notwendig: Wie hätte man sonst erfahren, was im Ort passiert? Die Informationsverbreitung des vorelektronischen Zeitalters ging nun mal andere Wege. Wenn werktagmorgens eine einsame Glocke über die Dächer hallte, band sich meine Mutter die Schürze ab und ging über die Straße zur Bäckerei, um eine Kleinigkeit zu holen und dabei zu erfahren, wer gestorben war. Gegen Mittag zog der Gemeindediener mit der Schelle durch die Straßen und verkündete laut, was es an Neuem zu vermelden gab. Andere Zeiten. Und das, was heute auf den Sensationsseiten der Zeitungen steht, leisteten die Austrägerinnen, wenn sie in Abständen mit ihren Produkten – Eier, Speiseöl, Seife, Waschmittel – in die Häuser kamen. Sie dürfen nicht verwechselt werden mit den durch die Dörfer ziehenden fliegenden Händlern.

   Fortsetzungen: Teile II und III